Dienstag, April 18, 2006

Alle mal hinschauen

Eine U-Bahnfahrt verleitet zum Glotzen. Vor allem, wenn Menschen sich unterhalten. Einem Gespräch kann man am besten folgen, wenn man die Leute dabei anschaut, das macht es schwierig, wenn sie nicht merken sollen, dass man mithört. Redet keiner und gibt es nichts zu Lesen, gibt es trotzdem immer was zu Glotzen, denn seltsame Menschen steigen fast an jeder Haltestelle zu. Der Großteil dieser Menschen möchte nicht angestarrt werden, mag der Hut noch so bizarr sein und das Make-Up so clownesk.
Aber es gibt ja auch die kleine Gruppe der Egozentriker. Die Pseudo-Intellektuellen, zum Beispiel, die in der Bahn Tagebuch führen, Bestseller-Romane schreiben und spannende Drehbücher entwerfen. Sie werfen theatralische Blicke nach oben gen Werbetafel - vielleicht kommt ja von da die geniale Eingebung -, seufzen gut hörbar und kauen hektisch auf Kugelschreibern und Bleistiften. Guckt endlich einer? Reagiert einer auf das Seufzen? Vielleicht jetzt den Stift intellektuell-umnachtet zu Boden fallen lassen? Hebt ihn dann jemand auf und fragt? Fragt endlich: "Was schreiben Sie denn da?"
Fragt nie einer. Vielleicht betagte Damen, die dann Endlos-Monologe über ihre leider zu früh beendete Dichterinnenkarriere halten. Das will der Pseudo-Intellektuelle natürlich auch nicht hören.
Aber es gibt noch Entrücktere. Die Musikhörer. Nicht die pubertären Checker, die so laut Jeanette Biedermann hören, dass schon alle mitsingen können. Die wollen auch Aufmerksamkeit, aber noch mehr Aufmerksamkeit will der intellektuelle Musikhörer. Denn er hört die richtige Musik, irgendwas Abgefahrenes, Independent-Punk aus Hintertupfing, in New York schon ganz angesagt, aber in München/Hamburg/Köln nur hier auf diesem MP3-Player! Der Musikhörer trägt einen auffälligen, sehr teuren Kopfhörer, dessen riesige Muscheln ihm etwas Drohnenhaftes verleihen und die zumindest in den kalten Monaten bestimmt sehr praktisch sind. Einen beispielhaften Vertreter dieser Sorte Mensch habe ich vor einigen Monaten in Hamburg, U-Bahnhof Hallerstraße, getroffen. Es entwickelte sich ein ebenso bespielhafter Dialog mit einem anderen Fahrgast.

Musikhörer (ganz trendy angezogen, die riesigen Muscheln auf den Ohren und ein Fahrrad vor sich herschiebend) kommt auf den Bahnsteig, wackelt mit Kopf und Körper in einem undefinierbarem Takt und singt vor sich hin.
anderer Fahrgast (grinst, irgendwie angetan): Mensch, du singst ja laut mit.
Musikhörer (hält inne, schiebt sich eine Muschel vom Ohr): Was?
anderer Fahrgast: Du singst laut mit.
Musikhörer: Ach, hab ich gar nicht gemerkt. War so versunken, weißt du. Willste mal hören?

Sein Ziel hat der Musikhörer binnen Sekunden erreicht. Er hat ein wenig exzentrisch mit dem Kopf gewackelt, sich nicht entblödet zu Kopfhörermusik vor sich hin zu singen, wurde positiv bemerkt und kann jetzt in Sachen Musik missionieren. Aber der in New York ganz angesagten hier noch total unbekannten Band aus Hintertupfing hat es bestimmt nicht geschadet.