Donnerstag, Juni 29, 2006

Untergrund-Neurotiker

Zeitunglesen in der U-Bahn ist eine diffizile Angelegenheit, es sei dann, man schämt sich nicht, die "Welt Kompakt" zu kaufen. Denn es braucht schon einen Origami-Kurs, um die Zeitung so zu behandeln, sprich: zu falten, dass man sie nicht ständig dem Sitznachbarn ins Gesicht haut. Nach 20 Minuten Fahrt trage ich deshalb keine "Süddeutsche Zeitung" mehr mit mir herum, sondern einen zerknitterten Papierhaufen, in den man vielleicht noch Salat einwickeln könnte.
Über den dreifach gefalteten Politikteil hinweg, den Rest der Zeitung schon nach einer Station zu einem unübersichtlichen Haufen verwurschtelt auf meinen Knien, beobachte ich die Frau im Sitz gegenüber, die gleich die Ausgaben der letzten drei Tage dabei hat. Das ist nichts ungewöhnliches, es gibt viele Menschen mit dem neurotischen Zug, keine Zeitung wegschmeißen zu können, bevor sie nicht auch die letzte Börsenmeldung mit Interesse gelesen haben.
Doch diese Frau liest nicht. Sie reißt und faltet. Dem Reißen und Falten widmet sie sich mit solcher Konzentration, dass man nur davon ausgehen kann, dass es sich um eine wichtige Arbeit handelt. Die Regeln kennt nur sie. Aber so viel verstehe ich: Die Frau - Ende vierzig, Brille, braune Locken, Birkenstocksandalen - reißt entweder eine Seite heraus und faltet sie zu dünnen, länglichen Rollen oder gleich einen ganzen Teil, den Sportteil zum Beispiel.
Hat sie eine gewisse Anzahl dieser dünnen Rollen zusammen, schiebt sie sich nervös einen Packen unter die Achseln und fährt fort mit dem Reißen und Falten.
Vielleicht ist das ihr Job - Reißen und Falten? Vielleicht wird sie zurzeit nicht mit der Arbeit fertig, weil die Zeitungen dicker sind? Vielleicht hat sie einen cholerischen Chef, der ausrastet, wenn nicht genug gerissen und gefaltet wurde und sie muss deshalb sogar in der U-Bahn nacharbeiten?
Oder ist das Reißen und Falten ein neuer Zeitvertreib in der Bahn, mal was anderes als Barbara-Wood-Romane und Aldi-Prospekte? Oder sparen die klein gefalteten Zeitungsteile mehr Platz in der Papiertonne? Oder ist sie eine dieser Untergrund-Neurotiker, die auch bei fünfminütigen U-Bahn-Fahrten unruhig werden, wenn sie sich nicht mit etwas beschäftigen?
Es blieb keine Zeit, zu fragen. Am Scheidplatz stieg sie hektisch aus, einen Packen Zeitungen unter den Achseln und eine heraus gerissene Lokalseite in der Hand.

Donnerstag, Juni 22, 2006

Eine Durchsage

Ob sie wohl auch im kontext-freien Raum (s. unten) entsteht, die Stimme, die zum Fahrgast spricht? Während der Fahrt, ist ja klar, spricht der U-Bahn-Fahrer. In den neuen Bahnen ist es Frau Bundschu, eine Schauspielerin, die mit warmer Stimme Münchens U-Bahn- und Tramstationen auf Band aufgenommen hat, die nun den Schaffner ersetzen. Letztens hatte Frau Bundschus Band einen Hänger und wir fuhren in der "U2 Richtung Mess Ost" und der nächste Halt war "Milbhofen". So warmherzig und heimelig Frau Bundschu klingt, ich möchte eigentlich nicht auf die oft genervt-zynischen Kommentare der leibhaftigen Fahrer verzichten.
Auf die vielen Sachsen nicht, schon gar nicht auf Frau "Noxter Holt" oder den unbekannten Fahrer, der seinen Ärger über einzelne Mitfahrer sofort rauslässt: "Dann geht's heute halt nicht nach Fahrplan, bitte, wenn sich einige Fahrgäste mal wieder nicht entscheiden können, ob sie aussteigen wollen oder nicht..." Nett auch der Kollege, der fünf Haltestellen lang darüber sinnierte, was man mit 40 Euro alles anstellen könnte, als ein Schwarzfahrer erwischt wurde: "Stellen Sie sich vor, da ist Kino mit der Freundin drin und auch noch ein Kneipenbesuch! Kaufen's halt a Fahrkarte, bittschön..." Unvergessen auch der "Wiesn-Sonderexpress" an einem Samstag im September...
Dass die Münchner Verkehrsgesellschaft sich nicht nur als Dienstleister versteht, sondern auch einer ist, hat sie am vergangenen Dienstag bewiesen. Es ist kurz nach 17 Uhr, die zweite Halbzeit im Spiel Deutschland-Ecquador läuft. Ich verzicht auf diese zweite Halbzeit, ich will vor dem Mob in einer leeren U-Bahn sitzen und in der vorgegebenen Zeit nach Hause kommen. Ich nehme es auf mich, einen Teil des Spiels zu verpassen. Die MVG steht mir bei, am Sendlinger Tor kommt die Durchsage: "Verehrte Fahrgäste, aktueller Stand im Spiel Deutschland - Ecquador: Drei zu Null! Tor: Podolski! Ihre MVG!"
Fußball überall - auch im Untergrund kein Entkommen...