Freitag, Juli 28, 2006

Narziss und Erdbeermund

U-Bahnfahren verleitet zur intensiven Beschäftigung mit sich selbst. Auch wenn sich dieser Blog eigentlich um Untergrundgespräche dreht, stehen hier doch meistens Beobachtungen im Vordergrund, denn viele Menschen führen keine Gespräche in der Bahn. Höchstens Selbstgespräche. Aber dazu ein anderes Mal. Mit Selbstbeschäftigung meine ich: Menschen, die allein zehn Stationen mit der U2 fahren, sind sich ihrer selbst sehr bewusst. Und überprüfen ständig ihre Wirkung. In den Fensterscheiben der U-Bahn, zum Beispiel. Greifen wir einen ganz normalen Dienstagmorgen heraus, 8.55 in Richtung Scheidplatz. Jede zweite Frau die einsteigt, setzt sich hin und überprüft als erstes den Sitz ihrer Frisur in der Scheibe. Zupft noch ein bisschen hier, streicht dort noch ein paar Strähnen glatt.
Je jünger, desto mehr wird übertrieben. Die durchschnittliche 20-Jährige auf dem Heimweg ins Hasenbergl hat als Grundausstattung Taschenspiegel, Lidschatten, Wimpertusche und Lippenstift immer dabei und scheut sich auch nicht, diese Utensilien alle zu benutzen. Mit einer besonders aufgemotzten jungen Dame stand ich vergangene Woche in der U2 Richtung Feldmoching und musste feststellen: Wimpern tuschen und gleichzeitig in die Bahn einsteigen, geht irgendwie nicht. Wäre weniger Andrang gewesen, sie wäre hingefallen.
Was Mode betrifft ist der öffentliche Nahverkehr als Catwalk nicht zu unterschätzen. In Bus und Bahn werden neue Fummel zum ersten Mal ausgeführt, neuer Schmuck präsentiert und Wirkungen getestet. Nirgendwo sonst habe ich so viele falsche Louis-Vuitton-Taschen gesehen, nirgendwo sonst so viel goldene Gürtel und gehäkelte Schläppchen. Apropos gehäkelte Schläppchen - gestern saß mir eine gegenüber in weißen - makellos weißen! - gehäkelten Schläppchen. Wie hat sie das gemacht? Meinereins hätte die Rolltreppe noch nicht ganz genommen und die Schläppchen wären schon dreckig-braun.
Weil die Untergrundgespräche keine eindeutig modisch-stilistische Ausrichtung haben, hat sich eine andere Plattform der U-Bahn-Mode angenommen, nämlich www.cosmopolitan.de. Das ganze ist ein bisschen blutleer, denn ihren Opfern könnten die Cosmo-Frauen auch genauso gut in der Fußgängerzone oder im Einkaufszentrum begegnen, aber was soll's. Recht haben sie, die U-Bahn ist nun mal ein Biotop für seltsame Geschmäcker und Stilbrüche und sobald man sich in die Randbezirke des Münchner Verkehrsnetzes begibt, werden die Anziehsachen immer abenteuerlicher. Mode zeigt, wo Leute herkommen. Leute zeigen mit Mode, wo sie hingehören. Zum Beispiel stecken alle Mädchen mit Migrationshintergrund, die nördlich der Haltestelle Scheidplatz einsteigen, den Saum ihrer Hosen in die Strümpfe. Das hat dann was von einer Pluderhose, sieht eigentlich bescheuert aus, aber es vermittelt Identität. Keine Ahnung, was die Cosmo-Stilkritikerinnen dazu sagen, obwohl es die Gaderobe solcher Mädchen ist, die sie auf dem Kieker haben.
Diese Woche zum Beispiel, ereifert sich die unbekannte Cosmo-Autorin aus der U-Bahn über die Kombination Leggins + Minirock: "Nicht nur, dass schwarze Leggins in Kombination mit einem Jeansmini unvorteilhaft wirken können – geringelte tun dies mit absoluter Sicherheit." Der Neid trieft, schreibt die Cosmo-Dame doch von "uns Normalo-Frauen", denen die Mädels zumindest "spindeldürre Beinchen" voraus hätten. Cosmo spricht eine Warnung vor Leggins + Minirock im Allgemeinen und vor wildgemusterten Oberteilen im Besonderen aus.
Ich werde mich daran halten. Heute morgen habe ich mich übrigens dabei ertappt, wie ich gedankenverloren in die Fensterscheibe glotzte und mir dabei das Haar glatt strich.